Entscheidung über rund 85.000 Besoldungswidersprüche in Nordrhein-Westfalen – Landesregierung muss mit Musterverfahren einer drohenden Klagewelle vorbeugen und zeitnah die amtsangemessene Alimentation von Bediensteten überprüfen 

Antrag der Fraktion FDP, Drucksache 18/6368
Stellungnahme zur Anhörung des Haushalts- und Finanzausschusses und des Unterausschusses Personal am 16. Januar 2024


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Sehr geehr­te Damen und Herren,

die Ver­wal­tungs­rich­ter­ver­ei­ni­gung NRW bedankt sich für die Gele­gen­heit zur Stellungnahme.

Zu dem o.g. Antrag neh­men wir wie folgt Stellung:

Wir begrü­ßen aus­drück­lich den Antrag der Frak­ti­on FDP und unter­stüt­zen die dahin­ter­ste­hen­den Anliegen.

1. Zur Ausgangslage: Grundsatz der Ämterwertigkeit und Mindestabstand der Nettoalimentation zur Grundsicherung

Bereits in der Ver­gan­gen­heit hat die Ver­wal­tungs­rich­ter­ver­ei­ni­gung NRW auf Unzu­läng­lich­kei­ten im Rah­men der Besol­dungs­ge­setz­ge­bung auch nach Ein­füh­rung der regio­na­li­sier­ten Fami­li­en­zu­schlä­ge, spe­zi­ell die Fra­ge der ver­fas­sungs­ge­mä­ßen Ali­men­ta­ti­on mit Blick auf den Aspekt der Ämter­wer­tig­keit auf­merk­sam gemacht. Im Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren hat­ten wiruns dem­entspre­chend dahin­ge­hend posi­tio­niert, dass es dem Grund­prin­zip einer amts­an­ge­mes­se­nen Besol­dung wider­spricht, die Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit allein durch eine Erhö­hung der von der Grund­be­sol­dung abge­kop­pel­ten Fami­li­en­zu­schlä­ge zu erhö­hen. Hier­durch wird die Wer­tig­keit der Ämter nicht mehr aus­rei­chend im Sys­tem abge­bil­det und es ent­ste­hen Ver­zer­run­gen im Besol­dungs­sys­tem, weil die Zuschlä­ge zu star­kes und die Ämter­wer­tig­keit zu gerin­ges Gewicht besit­zen (vgl. zu den Ein­zel­hei­ten unse­re Stel­lung­nah­me Nr. 2 aus dem Jahr 2022, als Anla­ge beigefügt).

Zu Recht weist die Frak­ti­on der FDP dar­auf hin, dass – unge­ach­tet der oben dar­ge­stell­ten grund­sätz­li­chen Kri­tik – der vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt gefor­der­te Min­dest­ab­stand zur Grund­si­che­rung in den unte­ren Besol­dungs­stu­fen fort­lau­fend zu über­prü­fen ist. Hier­bei han­delt es sich um eine kom­ple­xe Berech­nung mit vie­len ver­schie­de­nen Fak­to­ren; die not­wen­di­gen Para­me­ter sind nicht alle öffent­lich ver­füg­bar bzw. ste­hen erst nach Abschluss eines Kalen­der­jah­res zur Ver­fü­gung. Ände­run­gen im Bereich des Sozi­al­rechts (z. B. Wohn­geld­ge­setz sowie Ände­rung der sozi­al­recht­li­chen Regel­be­dar­fe), die Ein­füh­rung des Bür­ger­gel­des im ver­gan­ge­nen Jahr sowie die zum 1. Janu­ar 2024 in Kraft getre­te­ne Erhö­hung des Bür­ger­gel­des wer­den sich auf den Min­dest­ab­stand zum ver­fas­sungs­recht­lich abzu­si­chern­den Grund­be­darf der nied­rigs­ten Besol­dungs­grup­pen aus­wir­ken. Not­wen­dig wer­den­de Erhö­hun­gen bzw. Zuschlä­ge wir­ken sich auf alle Besol­dungs­stu­fen aus.

Der Haus­halts­ge­setz­ge­ber ist ange­hal­ten, die Ali­men­ta­ti­on der­art aus­zu­ge­stal­ten, dass der Grund­satz der Ämter­wer­tig­keit hin­rei­chend berück­sich­tigt ist und nicht bei jeder Ände­rung von Sozi­al­leis­tun­gen eine Anpas­sung erfor­der­lich wird.

2. Ruhendstellung der Widersprüche sowie Musterprozesse

Solan­ge der o.g. Min­dest­ab­stand nicht oder nur knapp ein­ge­hal­ten ist und Besol­dungs­er­hö­hun­gen nur den­je­ni­gen zugu­te­kom­men, die Wider­sprü­che ein­le­gen, füh­len sich die Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen – unge­ach­tet der Fra­ge der Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit des Sys­tems der iso­lier­ten regio­na­li­sier­ten Fami­li­en­zu­schlä­ge – nach­voll­zieh­bar schlecht bera­ten, von einer Wider­spruchs­er­he­bung abzu­se­hen. Aus Sicht der Ver­wal­tungs­rich­ter­ver­ei­ni­gung ent­spricht es nicht der Treue­pflicht des Dienst­herrn, alle Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen durch die flä­chen­de­cken­de Beschei­dung der Wider­sprü­che in ein Kla­ge­ver­fah­ren zu zwin­gen, bevor die Rechts­la­ge geklärt ist. Dar­über hin­aus soll­te es im eige­nen Inter­es­se des Lan­des lie­gen, unnö­ti­ge Pro­zess­kos­ten zu vermeiden.

Vor die­sem Hin­ter­grund unter­stützt die Ver­wal­tungs­rich­ter­ver­ei­ni­gung NRW das Anlie­gen der Frak­ti­on der FDP, Anträ­ge bzw. Wider­sprü­che ruhend zu stel­len und Mus­ter­pro­zes­se zu füh­ren. Die Lan­des­re­gie­rung soll­te bereits jetzt klar signa­li­sie­ren, dass gericht­li­che Ent­schei­dun­gen von Mus­ter­ver­fah­ren aner­kannt wer­den und die Über­tra­gung auf alle Wider­spruchs­füh­re­rin­nen und ‑füh­rer zusa­gen (Gleich­be­hand­lungs­zu­sa­gen).

Mit freund­li­chen Grüßen

Nadesch­da Wilkitzki